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  • AutorenbildLilian Kaufmann

Es war einmal - Von Chokern und Jokern


Alles nur ein alter Hut oder steckt doch mehr drin?

Gibt’s noch was, was es noch nicht gab?

Wohl kaum. Irgendwie war doch alles schon mal da. Jetzt, mit siebenundzwanzig, kann ich tatsächlich Sätze sagen, die ich früher nur von meinen Eltern kannte: Ach ja, das gab’s damals auch schon. So ging es mir beispielsweise, als ich 2016 die ersten Mädchen mit Chokern um den Hals gesehen habe, völlig zu unrecht als Hundehalsbänder oder Fetischobjekte verschrien. Bei uns hieß das früher ganz einfach Tattooband und jede Grundschülerin hatte so eins. Mein eigenes hatte sogar kleine Steinchen, saß dafür aber so locker, dass es immer bis zu den Schlüsselbeinen rutschte und den Namen Tattoo eigentlich nicht verdient hatte – höchstens im mentalen Sinne, denn es hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich habe es nämlich die halbe Grundschulzeit hindurch getragen, jeder kurzzeitigen Trendwelle und seiner verfehlten Namensgebung zum Trotz. Und da wären auch noch die bauchfreien Shirts à la Britney Spears (Britney!), die Jeans-Miniröcke und die Adidas Superstar – um nur ein paar der größten Erfolgshits der letzten Style-Saisons zu nennen. Der Stil meiner Kindheit konnte mir in den vergangenen Monaten tatsächlich vorgaukeln, ich sei wieder mädchenhaft jung.

Meine einzige Revival-Sorge gilt ehrlich gesagt nach wie vor den Schlaghosen, die meine gesamte Grundschulzeit auf zwei runden Tellern begründet hat, auf den kreisförmigen Schatten, die meine damaligen Hosenbeine warfen (Vermutlich haben sie höchstpersönlich sogar zur Erfindung der Buffalos geführt – übrigens auch wieder im Trend –, da sie jeden anderen Schuh verschluckt und unsichtbar gemacht haben). Kaum zu glauben, dass sich meine kindliche Verachtung gegen die sogenannte Karottenhose alias Röhrenjeans richtete.

Aber genug von den stofffesten Beweisen!

Was wir aus der Mode kennen, mag ein generelles Phänomen sein.

Schließlich haben wir alle das große Glück, im Jahr 2018 zu leben. Halleluja! Das bedeutet, dass schon rund 300.000 Jahre lang Generationen von Menschen vor uns gelebt haben. Seit Menschengedenken denken Menschen und oft genug denken sie sich dabei auch nur etwas aus: Geschichten zum Beispiel, Lieder, Reime, politische Hirngespinste, Lügen oder eben Tattoohalsbänder. Menschen konnten schon immer auf die wahnwitzigsten Ideen kommen. Die Kunst ist seit jeher eine menschliche Ausdrucksform, Produkt seiner Fantasie, seiner Launen. Malerei, Skulptur, Musik und Tanz, sie alle gab es schon in der Altsteinzeit.

So findet sich auf Wikipedia unter dem Wort „Choker“ folgender schlichter Eintrag: „Der Choker (engl. to choke = würgen) ist ein im 15. Jahrhundert aufgekommenes Modeschmuckaccessoire, das eine Länge von etwa 40 cm hat.“ Da haben wir’s: Selbst die richtige Länge wird uns seit sechshundert Jahren vorgeschrieben. Und da soll nochmal jemand sagen, wir jungen Leute von heute seien unabhängige, aufgeklärte Freigeister. Fehlt nur noch die passende Leine, vielleicht ja immerhin mit Steinchen.

Irgendwann sind also auch sie aufgebraucht, die wahnwitzigsten Ideen, die menschliche Gehirne produzieren können. Denn ob’s jedem gefällt oder nicht: Wir stammen alle von denselben Vorfahren ab, wir sind alle miteinander verwandt – Und so einzigartig ist wohl keiner von uns, dass unsere intimsten Ideen nicht auch schon heimlich durch irgendeinen anderen Kopf auf dieser Welt gegeistert wären.

Keine Liebe, die nicht schon wort- und tränenreich beschrieben, besungen, bemalt worden ist, kein Hass und keine Intrige, die wir nicht aus Erzählungen kennen, keine Freund- oder Feindschaft, keine menschliche Träumerei von den absurdesten Dingen wie dem Wunsch nach ewigem Leben, nach unendlichen Kräften, nach Magie oder einfach nur der Vorstellung, fliegen zu können. All das scheint uns irgendwie schon mal in irgendeiner Form begegnet zu sein und wird es auch in Zukunft immer wieder tun. Die menschlichen Emotionen sind schließlich so alt wie seine Irrungen und Wirrungen und die Triebfeder jeder künstlerischen Entfaltung.

Die Trickkiste wird seit Tausenden von Jahren immer wieder und wieder geöffnet, bis der Trick irgendwann darin besteht, ihn nur noch neu einzukleiden. Oder aber die alte Kleidung wie neue aussehen zu lassen.

Jedes Kind kennt die weißen Kaninchen aus dem Zylinder, sie werden mehr und mehr zur bedrohten Art. Aber, zugegeben: Selbst Veganismus ist ein alter Hut, die erste vegan society wurde 1944 in England gegründet. Also auch kein neuer Einfall, kein junger Hase, der zur Arterhaltung seiner weißen Verwandten beiträgt.

Und was heißt das jetzt für mich als Autor?

Früher war mein eigenes Kaninchen der Traum gewesen. Ich weiß nicht, wo ich das herhatte, vielleicht aus dem Fernsehen. Ich fand mich jedenfalls ziemlich gewitzt, als ich in einem Schulaufsatz auf genau diesen Kniff zurückgriff, nachdem ich mich unweigerlich in eine schreibtechnische Sackgasse begeben hatte, aus die mein damaliges Kinderhirn keinen anderen Ausweg kannte. Ich hatte das Tattooband um meinen Hals an jenem Tag wohl ein wenig zu eng geschnürt, ich hatte etwas zu dick aufgetragen. In dem Bemühen, Spannung aufzubauen, hatte ich meinen Protagonisten auf eine Zeitreise geschickt, obwohl schon jedes Kind der 90er wusste, dass das nicht möglich ist. Also war eben am Ende alles nur ein Traum. Genial simpel. Und ein älterer Hase als das zerzauste Exemplar aus Alice im Wunderland.


Also, weiter.

Zeitreisen durch Magie? Gab es auch schon.

Zaubernde Menschen? Natürlich!!

Actionhelden? Jede Menge.

Fabelwesen? Genau so viele.

Die eine große, wundervolle Romanze? Immer wieder gerne.

Eine Romanze, in der Fabelwesen vorkommen? Man denke nur an glitzernde Vampire.

Gruselige Horrorgestalten? Klar, aber die glitzern in der Regel nicht.

Den perfekten Mord? Nach Gebrauchsanweisung.

Widerwärtige Psychopathen? Nenn mir einen besseren als Hannibal Lektar.

Skurrile, schrullige Ermittler? Von Holmes über Monk bis Miss Marple, von England über Skandinavien bis in die USA.

Was bringt die Leute zum Staunen?

Zum Lachen?

Zum Fürchten?

Ich brauche keinen Choker, sondern einen Joker.

Gibt es überhaupt noch ein Ass im Ärmel, gibt es noch unerzählte Geschichten?

Denn irgendwie war alles auf irgendeine Art und Weise schon mal da.

Es gab Romeo und Julia, Harry Potter und den Herrn der Ringe, es gab Twilight und den kleinen Prinzen, die Buddenbrooks, Faust und das Parfüm, Robinson Crusoe, Pippi Langstrumpf und Winnetou, Krieg und Frieden, Illuminati, den Schwarm und die Säulen der Erde, es gibt Liebesromane, Krimis, Thriller, Historische Romane, Gedichtbände, Sommeromane, Reiseromane, Gute-Laune-Romane, lustige Ratgeber, düstere Ratgeber, Biographien.

Es gab Überraschungseffekte dank dem Kniff mit dem Traum, dank des unauffälligen Mörders von nebenan, den keiner je verdächtigt hätte, dank der Erklärung durch übernatürliche Kräfte, durch unerwartete Wechsel der Erzählperspektive, durch Rückblenden, Weglassen und Hinzudichten und durch die Erforschung sämtlicher psychologischer Tricks, wie in Shutter Island zum Beispiel, als sich am Ende herausstellt, dass der Protagonist die gesamte Handlung durch eine psychische Erkrankung völlig falsch wahrgenommen hat. Überraschung.

Und jetzt? Den Zylinder nehmen und solange schütteln, bis vielleicht doch noch ein letzter, zerzauster Feldhase herausplumpst?


Vielleicht muss gar nicht immer alles neu und anders sein. Ein Kartenspiel kann auch dann Spaß machen, wenn man es schon kennt – die Karten müssen nur gelegentlich neu durchgemischt werden. Im eigenen Rhythmus.

Vielleicht sollte man ganz einfach versuchen, es mit den Buchstaben genauso zu machen: Sie im eigenen Rhythmus durchrütteln. Eigene Sätze finden.

Die Liebe erlebt der Mensch ja zum Beispiel auch gerne individuell, was gut ist, denn wenn es immer so ein Drama geben würde wie in Romeo und Julia, dann hätte die Menschheit sicher nicht 300.000 Jahre lang überlebt. Und mein eigenes Tattooband wird immer etwas Besonderes für mich bleiben, ich werde es nicht einfach durch einen neuen Fashion-Choker ersetzen können. Manche Dinge mögen sich vielleicht wiederholen, aber 2018 ist nicht 1998. Die Leiden des jungen Werther sind nicht dieselben wie die der Isabella Swan. Liebe ist eben nicht gleich Liebe, Buch ist nicht gleich Buch. Irgendetwas ist doch immer anders. Und weiße Kaninchen werde ich immer entzückend finden, egal, wie oft ich sie schon gesehen habe. Nur, ob ich mir jemals wieder eine Schlaghose kaufen werde, das weiß ich wirklich nicht.

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